Nicole persönlich: Ist das noch die Welt, in der ich leben will?
Eigentlich wollte ich euch heute einen anderen Artikel schreiben. Aber dann bin ich heute morgen aufgewacht und war wie wohl die halbe Welt geschockt: meine Facebook-Timeline war voller Horrornachrichten aus Paris! Ihr kennt das vielleicht: noch nicht ganz wach, scrollt ihr so eure Timeline runter und da ist eine Nachricht und ihr denkt, da hat sich wohl einer einen schlechten Scherz erlaubt, doch dann folgen immer wieder die gleichen Horrornachrichten und es dämmert langsam, kein Scherz, es ist wohl wahr. Warum hatte ich gestern nicht mehr auf mein Handy geschaut?
Wieder ein Terroranschlag in Paris! Mitten im Herzen von Europa. Ein brutaler Schlag für die seit der Aufklärung hart erkämpften Werte: Liberté, Égalité, fraternité – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Was ist los in dieser Welt? Ist das die Welt, die ich bisher kannte, das Europa, das ich bis dato kannte?
Bilder ziehen durch meinen Kopf, bei meinem ersten Paris Besuch war ich 13 – Schüleraustausch, wir schlenderten so herrlich beschwingt die Champs-Elysée hinunter, so jung, so unbeschwert, wir kicherten non stopp über so ziemlich alles, die Welt, sie war für uns eine friedliche, nirgendwo lauerte für uns Gefahr. 10 Jahre später wieder in Paris, ich bin jetzt Studentin, mein Bruder hat seine Urlaubsbekanntschaften aus Chile eingeladen, wir reisen durch Europa: London, Paris, Madrid. Wir sitzen in den Straßencafés von Paris, ich, mein Bruder und die Chileninnen. Die Welt stand uns offen, wir waren jung, wir redeten über Männer (naja ich und die Chileninnen, mein Bruder nicht), wir redeten über Musik, über Paris und unsere Reiseträume. Wir waren immer noch jung, voller Hoffnung, dass uns mal ein gutes Leben bevorstehen würde, denn wir taten ja alles dafür, studieren, Auslandspraktika, Sprachen lernen. Wir sahen den Eiffelturm in allen Farben funkeln, wir fuhren mit einem Touriboot die Seine hinunter, hörten französische Chansons, es war ein Samstagabend im Juni, schöne Französinnen tanzten auf einem Partyboot auf der Seine. Ich war damals neidisch, ich wollte so sein, wie diese schönen Französinnen, attraktiv, begehrenswert, fröhlich, das Leben zelebrierend. Wir schlenderten durch den Louvre und sahen all die Kunstwerke aus sämtlichen Epochen, das Lächeln der Mona Lisa. Wir saßen am Ufer der Seine, wie alle Pariser im Sommer, es war unser letzter gemeinsamer Abend, wir hatten eine gute Zeit.
Als ich wieder zuhause bin, erfahre ich davon, dass es in London Terroranschläge gegeben hatte, genau an der Stelle an der unser Hostel war, in dem wir 2 Wochen vorher noch eine gute Zeit hatten. Das war 2005, vor zehn Jahren.
Die Terroranschläge heute, schockieren mich bis ins innerste Mark, ich weiß nicht wieso, bin ich heute sensibler als 2005, machte es mir damals weniger aus? Prallte es an mir und meiner jugendlichen Leichtigkeit einfacher ab oder was ist mit mir heute los? Ich ertrage zur Zeit die Nachrichten nicht mehr. Ich kann es einfach nicht mehr sehen, alles macht mir Angst in diesen Tagen. Alles was da passiert in dieser Welt und ich frage mich was geht da eigentlich ab? Wo führt das noch hin?
Ich bin ein Kind der 80er, da war die Welt noch in Ordnung. Ich wuchs in einem schwäbischen Dorf auf, es gab keine Gewalt, es gab kein Hartz IV, selbst die Kühe auf der Weide waren noch glücklich, ok damals hatte uns Tschernobyl erschüttert, war auch ne Katastrophe. Meine Namensvetterin Nicole hatte grade den Comprix d’Eurovision gewonnen mit dem Lied „ein bisschen Frieden“, gesungen in 4 Sprachen. Der erste Golfkrieg war weit weg, im Fernsehen sozusagen. Klar, damals hatte ich all das noch nicht verstanden, geschweige denn mitbekommen. Aber es gab da dieses Gefühl, des Behütetseins, der Sicherheit. Wir waren nicht reich, aber wir wussten, wenn wir fleißig sind, dann werden wir immer ein Dach über dem Kopf haben und eine Rente, denn die war ja damals noch sicher. Heute erscheint mir das wie ein kitschiger Heimatfilm. Wo ist die Welt, in die ich als Kind hineingewachsen bin? Was ist nur aus dieser Welt geworden? Mein Bruder hat heute zwei Kinder, so unschuldig und unbefangen, aber in welche Welt werden sie hineinwachsen? Wird diese Welt noch eine friedliche sein oder werden sie dieses Gefühl eines sicheren Lebens nicht kennenlernen dürfen?
Meine Gedanken sausen heute im Kreis herum und ich weiß nicht wie ich mich ablenken kann. Um 17:30 Uhr zünde ich eine Kerze an, stelle sie an mein Fenster, um meine Solidarität auszudrücken, eine Facebook Aktion, bei der sich Tausende beteiligen. Doch das macht mich nur noch nachdenklicher. Wie wird dieser Terroranschlag meine Welt verändern? Irgendwas geht da vor sich, ich spüre das, es wird anders werden, so ziemlich alles wird anders werden. Ich spüre solche Dinge, weil ich ein sensibler Mensch bin. Werde ich mich noch auf Massenveranstaltungen trauen? Werde ich noch Weihnachtsmärkte besuchen können? Werde ich mich abschotten müssen, einen Hochsicherheitszaun um meine vier Wände bauen müssen? Vielleicht erscheint euch meine Angst übertrieben. Aber sie ist da, heute, am Tag nach den Terroranschlägen von Paris. Ich wünschte da wäre jemand neben mir, die starke Schulter zum Anlehnen, die mir sagen würde, alles wird wieder gut. Die Welt ist gut und uns wird nichts passieren, denn wir sind immer noch jung. Aber da ist niemand.
Während ihr das lest, bin ich auf dem Weg zum Flughafen und ich frage mich, was wird mich da erwarten? Ich fliege nach Zypern und ich habe mich auf diese Reise gefreut. Ich hoffe und wünsche mir, das meine heile Welt heil bleibt und ich wünsche euch allen eine heile Welt, wenn ihr eine starke Schulter neben euch habt, dann lehnt euch an. Oder um es mit der Sängerin Nicole zu sagen: „ein bisschen Frieden für diese Welt und dass die Menschen nicht so oft weinen, das wünsch ich mir“.
Während ich unterwegs sein werde, werde ich all das verdrängen. Vielleicht ist das das Geheimnis, um die Welt zu überstehen, verdrängen und weitergehen. Das Leben genießen, so lange man es noch kann.
Eure grade
traurige Nicole
Das hast Du ganz wundervoll geschrieben und es ist exakt das, was mir momentan auch durch den Kopf schwirrt. Ich habe einen ähnlichen Artikel hier liegen und weiß noch nicht ob ich ihn veröffentlichen soll. So sehr mich auch all die anderen Attentate erschüttert haben, so eindringlich habe ich nun das Gefühl, dass das der letzte Tropfen gewesen sein könnte. Wo auch immer jetzt etwas überschwappt, aber davor habe ich Angst. Davor, dass ein Krieg ins Rollen kommt, den wir nicht absehen können. Davor, dass die Stimmung in unserem eigenen Land kippen könnte.
Ich glaube, dass auch unsere Kinder in einer heilen Welt aufwachsen werden, weil wir sie so lange wie möglich von diesen Katastrophen fernhalten werden. Sie werden spielen, lachen, weinen und eine unbeschwerte Kindheit haben. Der Luxus, den man in Deutschland noch hat. Jede Generation hatte ihre Kriege. Auch für unsere Eltern stand an gewissen Punkten der Geschichte nicht fest, ob es an irgendeiner Stelle weiter eskaliert. So wie nun auch. Immer anders, aber die Ängste sind doch immer ähnlich.
Nachdenkliche Grüße Nina
vielen lieben Dank für deinen ehrlichen Kommentar, Nina. Du hast so Recht, unsere Eltern sind ja selbst noch das was man „Nachkriegsgeneration“ nennt, und schon hätten wir fast vergessen, was das bedeutet. Ja, ich wünsche mir, dass die Kinder im Lande sorgenfrei aufwachsen und lernen wie schön die Welt ist und was es alles zu entdecken gibt da draussen. wir lassen uns unsere Freiheit nicht nehmen, von ein paar Idioten, und doch sind wir alle befangen. Liebe Grüße
So ähnlich geht’s mir auch. Ich weiß aber noch, dass ich als Kind Angst vor einem Krieg zwischen West und Ost hatte … Der Kalte Krieg war an seinem Höhepunkt und die Stimmung kam auch bei mir an. Doch alles würde besser. Entspannung. Gorbatschow und dann die Wiedervereinigung. Alles schien gut zu sein. Perfekt. Doch dann kamen die ersten Terroranschläge – und Kriege in Europa, im nahen Osten und andere Katastrophen. Mir tut es so leid für die Kids heutzutage, dass sie nicht angstfrei aufwachsen können.
Aber da es die einzige Welt ist, die wir haben hilft nur, dass wir uns nicht unterkriegen lassen und unser Leben trotzdem weiterleben. In diesem Sinne: Genieße Deine Reise! Trotzdem. Nein: Jetzt erst recht!
Claudia
vielen lieben Dank, Claudia, für den aufmunternden Kommentar. Inzwischen bin ich wieder von Zypern zurück und beruhigt, dass ich dort nichts davon gemerkt habe. Die Reise habe ich sehr genossen. Im Prinzip ist es so: jede Generation hatte ihre Kriege, Vertreibungen, Hungersnöte und Flucht. Die Menschen lernen wohl nix dazu. Nur bei diesem Terror scheint es mir so unberechenbar und planlos und das macht mir Angst. Ich danke dir für deinen Kommentar.